Eine Sache der Perspektive
Ich bin noch nicht an den Punkt gekommen, an dem es keinen Spaß mehr macht, mich jeden Tag zu quälen
Wenn man mit Daniela Bleymehl über das (Sport-)Jahr 2020 spricht, dann geht es natürlich vor allem um abgesagte Rennen, um Hoffnungen, die immer wieder enttäuscht wurden und um Kraft und Nerven, die das Jahr gekostet hat. Wenn man mit Daniela Bleymehl über das (Sport-)Jahr 2020 spricht, dann geht es aber auch darum, dass sie es genossen hat, mal weniger zu reisen und mehr Zeit mit der Familie zu verbringen und darum, Zeit für eher ungewöhnliche Momente im Leben einer Leistungssportlerin zu haben: Sie ist zum Beispiel zusammen mit ihrem Mann auf den Mont Blanc, den höchsten Berg der Alpen gestiegen.
Im Rückblick auf jenes (Sport-)Jahr ist es wie immer im Leben, es ist alles eine Sache der Perspektive. Und Daniela, seit ihrem elften Lebensjahr Triathletin, seit knapp zwei Jahrzehnten Leistungssportlerin, macht wohl das Vernünftigste, was sie tun kann. Sie wählt für 2020 eine Perspektive, die ihr viel positiven Ermessensspielraum lässt: „Vielleicht kann ich ja in zehn Jahren sagen, dass ich meine Karriere um ein Jahr verlängern konnte, weil es meinem Körper guttat, in einer Saison mal keine drei Langdistanzrennen zu absolvieren.“
Daniela Bleymehl, 32 Jahre alt, befindet sich, wie man so schön sagt, im besten Langdistanz-Alter. Vielleicht hat ihr die Corona-Pandemie eines der besten Jahre ihre Karriere gestohlen, vielleicht tat ihr ein Jahr ohne große Rennen psychisch und physisch auch gut. Man weiß es (noch) nicht. Was man ebenfalls (noch) nicht weiß: Vielleicht hat sie die besten Jahre ihrer Karriere noch vor sich. Stellt man sich die Karriere von Daniela Bleymehl als eine mathematische (Erfolgs-)Kurve vor, und blendet das Jahr 2020 einfach mal aus, dann ist diese Kurve zuletzt angestiegen. Stark angestiegen. 2018 hat sie die Challenge Roth und den Ironman Italien gewonnen, 2019 siegte sie bei drei Mitteldistanzrennen, holte sich unter anderem auch den Deutschen Meistertitel über die Mitteldistanz. Bei ihrem zweiten Start bei der Ironman-WM auf Hawaii im Vorjahr erreichte sie als Neunte ein Top-Ten-Resultat. Es waren die zwei bislang besten Jahre ihrer Karriere.
Was man, beziehungsweise sie, ebenfalls weiß: dass noch Potential vorhanden ist: „Das perfekte Rennen hatte ich noch nicht“, sagt Daniela. Selbst bei ihren bislang besten Wettkämpfen, etwa dem Sieg in Roth oder dem Top-Ten-Ergebnis auf Hawaii, gab es viele Dinge, die nicht gut liefen. Und entsprechend hat Daniela, die sich natürlich bewusst ist, dass das Warten auf das perfekte Rennen eine unendliche Geschichte sein kann, noch Träume: den Ironman in Frankfurt, ihr Heimrennen, zu gewinnen, bei der Challenge Roth noch einmal auf dem obersten Siegerpodest zu stehen, auf Hawaii unter die besten Fünf zu kommen, im Idealfall aufs Podium.
Auf dem Weg zu diesen Zielen und Träumen scheint Daniela Bleymehl in den vergangenen Jahren ihr Erfolgsrezept, die richtige Balance zwischen Leistungssport und Privatleben, zwischen Verbissenheit und Lockerheit, zwischen Genuss und Verzicht gefunden zu haben. Triathlon ist ihr Leben, Leistungssport ihr Beruf. Aber sie hat auch erkannt, dass es wichtig ist, sich mal Auszeiten zu nehmen, dass es auch „andere Sachen im Leben außer dem Sport“ gibt. Ihre Familie, ihr Sohn, enge Freunde spielen eine sehr große Rolle. Vor zehn Jahren, so erzählt sie, habe sie das Preisgeld nach einem Wettkampf genommen und sei zum nächsten Rennen geflogen. „Damals musste ich auf niemanden Rücksicht nehmen.“ Mit der Verantwortung setzte ein Umdenken ein. Ein Umdenken, das ihrer Leistungsfähigkeit anscheinend nicht geschadet hat. Im Gegenteil.
Ihr ist es wichtig zu erwähnen, dass sie sich noch lange nicht am Ende ihrer Karriere sieht – trotz und gerade wegen Corona. Sie sagt, sie genieße ihr Leistungssport-Leben immer noch sehr. Auch nach so langer Zeit. „Ich finde es toll, draußen zu sein, mir die Zeit frei einzuteilen“, sagt Daniela. Triathlon ist noch immer ihr Lebensmittelpunkt. „Ich bin noch nicht an den Punkt gekommen, an dem es keinen Spaß mehr macht, mich jeden Tag zu quälen“, sagt sie.